Vor zwanzig Jahren – der Mauer-zufall? (2009)
1. Schabowskis Zettel – ein Irrtum?
Im Rückblick zum 20. Jahrestag erscheint der Mauerfall in den Medien überwiegend als eine Art Zufall, so scheint es, wenn man sich die Schlagzeilen, Titel und Thesen ansieht sowie die dazu gehörenden Darstellungen der Ereignisse: „Schabowskis Zettel“ steht nämlich im Mittelpunkt des Rückblick, ein „Irrtum führt zum Dammbruch“, wie die ARD-Dokumentation vom 2.11. bilanziert. „Der schönste Irrtum der Geschichte“ titelte die ZDF-Dokumentation am 26.10., „Ein Irrtum, der Geschichte schrieb“ die T-Online Nachrichten in Verbindung mit der Deutschen Welle am 9.11.2009 und am besten der Spiegel vom 2.11.: „Der Irrtum, der zur Einheit führte“. Gibt man die Stichworte „Mauerfall“ und „Irrtum“ bei Google ein, so bekommt man 132.000 Treffer und schon die ersten zehn sind eine eindrucksvolle Bestätigung dieser Tendenz die historische Wahrheit im Nachhinein zu verrücken: Nicht mehr das unausweichliche Ergebnis der „friedlichen Revolution“ der DDR-Bürger, sondern ein Fehler in der Absprache im Politbüro habe die Mauer geöffnet. So tönt es unisono aus den Schlagzeilen, als ob sich die Medien einer „Sprachregelung“ unterworfen hätten wie seinerzeit in der DDR, als das System noch funktionierte. „Wie die Berliner Mauer wirklich fiel“ wollte also das ZDF in seiner Sendung kommunizieren und genauso die Bild-Zeitung vom 9.11.: „Wie es 1989 wirklich zum Fall der Mauer kam“ – und das will heißen: Vorher hatte man falsche Vorstellungen?
Schabowski war am Abend des 9.11.1989 schon zur Pressekonferenz gegangen, als das Politbüro der SED erst den Beschluss fasste, ab dem folgenden Tag die Ausreise ohne Bedingungen zuzulassen, aber auf dem bürokratischen Weg der Visa-Erteilung, auch wenn dies „unbürokratisch“ und „schnell“ vonstatten gehen sollte. Das Datum stand jedoch nicht auf „Schabowskis Zettel“ (der über HR-Online verfügbar ist) und so kam es zu der nun immer wieder gezeigten Szene, als er schlussfolgerte: „Meines Erachtens ab sofort.“
2. Was hätte die Verzögerung um einen Tag bewirkt?
Der Politik-Professor Klaus Schröder von der FU Berlin meinte am 9.11. in einem interessanten Radio-Gespräch auf HR1, das Politbüro habe nur beabsichtigt, ab dem folgenden Tag die Ausreise über der üblichen Weg der Visa-Beantragung freizugeben, also zu kanalisieren. Man wollte dies dann der westdeutschen Regierung anbieten als Zugeständnis um im Gegenzug Geld – als Kredit oder Geschenk – zu bekommen, mit dem die DDR-Wirtschaft hätte stabilisiert werden sollen. „Man wollte die Maueröffnung an den Westen verkaufen“, so Schröder. Interviews mit Zeitzeugen aus dem Sicherheitsapparat der DDR, die jetzt allenthalben die Dokumentation zum Jubiläumstag in den Medien ergänzen, lassen gar ahnen, Betonköpfe innerhalb der politischen oder militärischen Führung hätten vielleicht noch bremsen wollen und auch können. Die Soldaten standen jedenfalls bereit. Doch wer hätte den Befehl zum Schießen gegeben? Niemand. Schabowskis Zettel und der ganze Vorgang darum herum sind ja der Beweis, dass die oberste Führung die Ausreise zulassen wollte – zulassen musste, denn Hunderttausende lassen sich auch militärisch nicht mehr halten und diesmal hätten auch die sowjetischen Truppen nicht geholfen, wie 1953.
Wäre die Grenzöffnung aber nach Plan verlaufen, hätte die DDR-Führung dann das Heft in der Hand behalten? Nichts spricht dafür. Vielmehr spricht das, was am 9.11. geschehen ist, dafür, dass es auch am 10.11. nicht anders verlaufen wäre: Die Grenzübergänge wären von den Massen gestürmt worden, auf die VISA-Stempel hätten die DDR-Grenzer ebenso schnell verzichtet wie es tatsächlich am 9.11. geschah.
3. Warum also ein „Irrtum“?
Offensichtlich tut sich die westdeutsche Psyche der Autoren, die die mediale Deutungshoheit haben, schwer mit der Vorstellung die Ostdeutschen hätten die Maueröffnung tatsächlich erzwungen. Zum Zeitpunkt, wo laut Umfragen viele Ost- aber auch Westdeutsche am liebsten wieder die Mauer hätten und in den Medien wie den TV-Talkshows darüber diskutiert wird, warum dies angeblich so ist, erscheint es geradezu logisch den Willen zur Freiheit, der die Mauer zu Fall brachte, im Nachhinein zu relativieren und dem „Irrtum“ Schabowski eine weitaus größere Bedeutung zuzumessen, als ihm zukommt, nämlich die Maueröffnung nur um einen halben Tag vorgezogen zu haben. Man will es den Ossis offenbar nicht gönnen, wenigstens einmal „besser“ gewesen zu sein als die Westdeutschen und dabei auch erfolgreich.
Wolfgang Geiger, 12.11.2009
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