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Kommentare zum Mauerfall und zur Wiedervereinigung aus Frankreich 1989-91

1. »Wenn Deutschland erwacht...«
Die »deutsche Frage« aus französischer Sicht

Ein Korrespondentenbericht aus Frankreich vom Dezember 1989. Wolfgang Geiger

2. »Die Konturen des neuen Deutschland sind alles andere als klar . . .«
Frankreich und die Wiedervereinigung

Ein Korrespondentenbericht aus Frankreich, erschienen im März 1991. Wolfgang Geiger

3. Der deutsche Sonderweg?
Buchbesprechung: Louis Dumont: L’idéologie allemande, 1991.
Wolfgang Geiger

 

2. »Wenn Deutschland erwacht...«
Die »deutsche Frage« aus französischer Sicht

Wolfgang Geiger

Wie François Mitterrand in Bonn zu bemerken gab, geht alles sehr schnell vor sich. Alles geht so schnell, daß eine noch vor wenigen Wochen tabuisier- te Frage - die nach der Zukunft der beiden deutschen Staaten - heute von den Führungen der einstigen Siegermächte, die sich bislang zur Rechtfertigung ihres Schweigens gegenseitig den Ball zuwarfen, nicht mehr übergangen werden kann.« - So das Editorial der wichtigsten französischen Tageszeitung Le Monde nach dem deutsch-französischen Gipfel in Bonn Anfang November. Jahrzehntelang galt nämlich auch in Frankreich die Teilung Deutschlands als der Kern der Teilung Europas und jener Nachkriegsordnung von Jalta, gegen die sich die Franzosen um so mehr empören durften, als sie nicht dabei gewesen waren. Es half [64] zudem, vom historischen Anteil Frankreichs an der Teilung Deutschlands abzulenken, das durch sein Veto solange den Alliierten Kontrollrat lahmgelegt hatte, bis die politische Entwicklung soweit vorangeschritten war, daß die Einrichtung gesamtdeutscher Institutionen nicht mehr zu befürchten war. Aus französischer Sicht mag es im übrigen gute Gründe dafür gegeben haben. Nun fällt es schwer, sich auf eine mit atemberaubender Schnelligkeit wandelnde Situation in Osteuropa und der damit verbundenen Aussicht auf eine »Revision von Jalta« einzustellen. Dementsprechend hölzern klangen zunächst die heruntergeleierten alten Formeln in den offiziellen französischen Erklärungen. Eine ganz andere Tonart haben jedoch recht früh schon Politiker angeschlagen, denen die politische Etikette eine größere Freiheit der Meinungsäußerung zugesteht. Und dies beginnt bereits bei Außenminister Roland Dumas. Seiner Meinung nach gehören zur Wiedervereinigung Deutschlands noch andere unabdingbare Voraussetzungen als die Beendigung der Ost-West- Konfrontation: »Der Wunsch nach Einheit oder Annäherung Deutschlands ist legitim, kann aber nicht über die Realität hinweggehen«, erklärte er Anfang Oktober, denn: »Die Teilung Deutschlands ist das Resultat internationaler Verträge.« Den letzten Satz sollten sich all jene zu Gemüte führen, die immer noch glauben, die Teilung Deutschlands sei ausschließlich die Folge der sowjetischen Expansionspolitik! Daniel  Vernet, Chefredakteur von Le Monde und ein exzellenter Deutschlandkenner, verdeutlichte nach dem Rücktritt Honeckers diese »Begrenzung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen«: »Man darf nicht vergessen, daß die DDR auch eine geostrategische Rolle spielt, für die UdSSR in erster Linie, aber etwas gedämpfter, scheinbar uneingestanden, auch für die westlichen Staaten - und zuvorderst für die Nachbarn Deutschlands.« Was folgt daraus? Verteidigungsminister Chevènement sprach es aus: »Eine Wiedervereinigung Deutschlands ist auch von der Zustimmung seiner Nachbarn abhängig.«

Die französische Politik hat sich auf eine sibyllinische Formel verständigt: Die europäische Einigung rangiert vor der deutschen. Dies ist aber nicht nur chronologisch gemeint! Im Frühjahr schon hatte der Politikwissenschaftler Alain Minc in seinem vielbeachteten Buch »Die große Illusion« das düstere Bild eines erneut vom »Drang nach Osten« befallenen Deutschlands ausgemalt, das sich aus der westeuropäischen Integration zugunsten einer Mittellage in Gesamteuropa abwende. Mit Beginn der revolutionären Entwicklung in der DDR mehrten sich die Vorwürfe an die französische Regierung, tatenlos zuzusehen, wie die Deutschen den osteuropäischen Markt erobern, so z.B. von Jacques Chirac, Chef der Gaullisten und Bürgermeister von Paris. Mit der zwanzigseitigen Titelstory »Man muß Angst vor den Deutschen haben« hat das angeblich »europäischste aller Wirtschaftsmagazine« Frankreichs mit dem bezeichnenden Titel Challenges (»Herausforderungen«) in seiner Oktoberausgabe das bis dahin stärkste Geschütz zu diesem Thema aufgefahren. In flotten Formeln wird dort die Bedrohung Frankreichs durch eine massive ökonomische Dominanz der Deutschen in Europa mit zahlreichen statistischen Daten unterlegt. Der Konkurrenzvorsprung der Deutschen erlaube es ihnen, die Franzosen »geradewegs roh zu verspeisen«*, heißt es darin, »sie könnten uns auf dem europäischen Einheitsmarkt im Langlauf abhängen und zur Drehscheibe eines großen, kontinentalen Europa werden«. Alexan- [65] dre Adler, ein renommierter Journalist von  Libération, offenbart in derselben Ausgabe die Globalstrategie Gorbatschows, von der dieser vielleicht selbst noch nichts weiß; Gorbatschow habe schon akzeptiert, weiß er zu berichten, daß ihm die DDR über kurz oder lang verloren gehe, er nehme dies in Kauf, um der Nato ihren Daseinsgrund zu rauben und dadurch langfristig Amerikaner und Europäer wieder als kapitalistische Konkurrenten gegeneinander auszuspielen. Klingt logisch - oder?

Die Furcht vor einer deutsch-russischen Verständigung gegen Frankreich geht bis auf den inzwischen reichlich mystifizierten Rapallo-Vertrag von 1922 zurück und treibt die französischen Medien erneut wieder seit dem Ende des Kalten Krieges um, seit Beginn der deutschen Ostpolitik unter Willy Brandt. Interessant ist dabei, daß die Schauermärchen von einer aus der NATO und aus Europa abdriftenden Bundesrepublik gerade immer auch in dem der Sozialistischen Partei nahestehenden Wochenmagazin Nouvel Observateur ein offenes Ohr finden. Der kleinste Anlaß, der Anflug einer deutschen »Sonderposition« innerhalb der EG oder der NATO ist dafür schon Anlaß genug. Jacques Julliard, stellvertretender Leiter des Magazins und parallel zu dieser Funktion auch Chronist in Challenges, hat dort in der besagten Ausgabe die Angst vor dem deutschen Verrat an (West-)Europa damit begründet, in der Bundesrepublik sei in den 80er Jahren »der europäische Eifer geschwunden«, der Blick werde vermehrt nach Osten gerichtet, und man habe »einer immer mehr von pazifistischen Idealen verführten öffentlichen Meinung Rechnung tragen« müssen. »Weiterhin Europäer mit Worten und der Absicht nach, verhalten sie sich dennoch, wenn ihre wirtschaftlichen und finanziellen Interessen im Spiel sind, als wären sie Regierende einer autonomen Großmacht, die sich wenig um Absprachen mit ihren Partnern kümmert.« Keine isolierte Meinung: Eine Reihe anderer Wirtschaftsmagazine hat gleich im folgenden Monat lautstark in dasselbe Horn gestoßen.

Plötzlich erscheint allen die bevorstehende Wiedervereinigung als geniale Erfüllung eines perfiden Plans der Deutschen. Michel Debré, unter de Gaulle Premierminister zur Zeit des Mauerbaus 1961, prognostizierte in der konservativen Tageszeitung Le Figaro am 11. November folgende Entwicklung: »Die politische Wiedervereinigung vervollständigt nur die wirtschaftliche und soziale Wiedervereinigung, die bereits seit Jahren im Gange ist.« Alles laufe letztlich auf »ein mehr oder weniger explizites deutsch-russisches Abkommen hinaus: Rußland drückt beide Augen bei der Wiedervereinigung zu, und Deutschland gewährt Rußland dafür eine bevorzugte Wirtschafts- und Finanzhilfe«. Eine ganz ähnliche Einschätzung äußerte gleichzeitig Debrés Parteifreund Alain Peyrefitte. In dieselbe Richtung denken auch zwei Politologen, die politisch sicher nicht auf der Rechten einzuordnen sind, und im Oktober in der international renommierten Monatszeitung Le monde diplomatique darlegten, warum »Europa von der deutschen Frage bedroht« sei. Im Zuge einer Wiedervereinigung könne »Deutschland in Versuchung geraten, auf einer anderen Ebene seinen Traum von der Hegemonie in Europa in die Tat umzusetzen«, dessen Realisierung auf militärischem Wege zweimal in einer Niederlage geendet hat. Mit anderen Worten: Nicht mehr existierende Grenzen im Europa von morgen bräuchten auch nicht mehr mit Waffengewalt durchbrochen zu werden, ein deutscher Wirtschaftsgigant könnte seine Hegemonie somit auf friedlichem Wege etablieren. Da Rußland sich von seiner Paranoia eines deutschen Revanchismus befreit habe, könne es sich mit einer neuen deutschen Großmacht auf eine Aufteilung der Einfluß- und Interessenssphären in Europa verständigen - so die eigene Revanchismus-Paranoia der beiden Autoren in Le monde diplomatique. Fünfzig Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt: ein neues Geheimabkommen zwischen Deutschland und Rußland? Solches Grummein in der französischen Medienlandschaft war schon anläßlich des Gorbatschow-Besuchs in Bonn deutlich zu [66] vernehmen. (Daß man aber ausgerechnet Kohl diese weltgeschichtliche Hauptrolle zutraut...?)

Mit der Story »Wenn Deutschland erwacht. ..« von François Schlosser Anfang November hat sich der Nouvel Observateur wieder einmal an die Spitze dieser französischen Revanchismus-Paranoia gesetzt: »Der ganze Osten träumt davon, zu einer Zone deutschen Einflusses zu werden«, liest man darin, und zwar unter der Hegemonie eines »deutsch-sowjetischen Kondominiums über Mitteleuropa«, innerhalb dessen die UdSSR den militärischen, Deutschland den ökonomischen Pfeiler bilde. Die Redaktion des Magazins scheut sich dementsprechend auch nicht, ein »pessimistisches Szenario 1999« in Form einer europäischen Landkarte abzubilden, auf der nicht nur die baltischen Staaten, ganz Ost- und Südosteuropa mit Ausnahme der Sowjetunion, sondern auch ganz Skandinavien und die Benelux-Länder als »deutsche Einflußzone« in hellbraunem Ton abgehoben sind - dunkelbraun: das wiedervereinigte Deutschland. Ein optimistisches Szenario sieht daneben in grüner Farbe ein neutralisiertes Osteuropa vor, Deutschland bleibt unvereinigt, die BRD nato-blau. Kein Zweifel: weder die Farben noch der Titel des Artikels sind zufällig gewählt. Auch wenn die Chefs des Nouvel Obs zwei Wochen danach ihre Alpträume wieder in Frageform gekleidet haben - »Wird Europa deutsch?« (J. Julliard) und »Wie könnte die wiedervereinigte deutsche Großmacht der Logik der Hegemonie widerstehen?« (J.Daniel) -, so wurde dennoch ein Zeichen gesetzt: Eine Woche nach der Öffnung der Mauer zog der liberale Express nach. In Anlehnung an ein bekanntes Buch von Edmond Vermeil aus dem Jahre 1939 (!) über die deutsche Geschichte wird dort die Gefahr im protestantischen Geist lokalisiert, der die deutsche Seele unausrottbar in einer mystisch-romantischen Verzückung verstrickt halte, bislang aber größtenteils hinter der Mauer gebannt war; nach deren Öffnung könne der Geist des Mönchs von Wittenberg ein spirituelles Vakuum im Westen füllen und »einen neuen Willen zur Macht« hervorbringen: nach jahrelangen Prüfungen »absoluter Demut« komme jetzt die Phase lutherischer Aktion in der festen Überzeugung, einer »allmächtigen Gnade teilhaftig geworden zu sein«.

An allerlei möglichen und unmöglichen Vergleichen mangelt es nicht in den letzten Wochen. Pierre Hassner vom französischen Zentrum für internationale Studien im Rahmen der Nationalstiftung für politische Wissenschaften verglich die politische Lage mit der vor 1914: Damals habe das zerfallende Habsburgerreich eine Instabilität in Mittel- und Osteuropa herbeigeführt, so wie heute das zerfallende Sowjetimperium; im Gegensatz zu damals verfüge man heute aber über eine Notbremse für alle Fälle: die Atomwaffen ... Wie er das wohl meint? Seine Kollegin Anne-Marie Le Gloannec aus demselben Hause hat dagegen jüngst durch ihr Buch »Die verwaiste Nation« eine seriösere Analyse der »deutschen Frage« vor ihrem geschichtlichen Hintergrund seit 1945 vorgelegt, deren Lektüre den von Hysterie gepackten Landsleuten dringend anzuraten ist, da sie darin die verschiedenen deutschlandpolitischen Konzeptionen treffend zu charakterisieren versteht und die revanchistischen Kräfte dort ausmacht, wo sie auch sind: nicht diffus bei »den Deutschen«, sondern in Teilen der CDU/CSU und rechts von ihr. Diese Vernunft bleibt aber vorläufig wohl chancenlos: Der konservative Fígaro, der die Autorin am 10. November nach ihrer Einschätzung der Lage befragt hat (wobei sie eine sehr abwartende Haltung vertrat), brachte in derselben Ausgabe seine Horrorvision von einem erneut auf »Lebensraum in Mitteleuropa« gierigen Deutschland: »Der Drang nach Osten hat eingesetzt, in Richtung auf jene riesigen Weiten, die seit dem Mittelalter die Teutonen immer magnetisch angezogen haben.« Über die Rückeroberung des Ostens soll aber letztlich der Westen geschlagen werden: in erster Linie ökonomisch, wer weiß, vielleicht aber auch anders... Die Wiedervereinigung, so eine mögliche Entwicklung für den Fígaro, erwecke schließlich die Preußen wieder [67] zum Leben, »einen hartgesottenen, autoritären, zum Befehlen befähigten Menschenschlag, der seit zwei Jahrhunderten das Gerüst von Armee, Wirtschaft und Verwaltung bildet und der Bundesrepublik ein Kaderpotential erster Güte liefern kann«. Solche und noch weitergehende Phantastereien könnte man wohl getrost übergehen, wären sie in Frankreich nicht gleichzeitig auf der Rechten wie auf der Linken virulent, Figaro und Nouvel Observateur reichen sich hier nämlich die Hand: So beargwöhnt man die Goethe-Institute in Osteuropa als Speerspitze einer kulturellen Germanisierungspolitik, die damit beginne, das Deutschtum der drei Millionen »Volksdeutschen« in Osteuropa zu fördern (Figaro), damit schließlich »ganz Osteuropa auf einmal erkennt, inwieweit es einst deutsch war« (Nouvel Obs). - »Die Adern der deutschen Präsenz in Osteuropa pulsieren schon wieder« (ebd.), »in Ungarn ist Deutsch gerade wieder zur ersten Fremdsprache an den Schulen erhoben worden. (...) In den ruinierten Kombinaten und ökonomischen und technologischen Fakultäten von Böhmen bis zum Ural denkt man Deutschland, wenn man Europa sagt« (ebd.). - Soweit die Schreckensbilder.

Eine »Österreichisierung« der DDR stellt sich ein politischer Berater Präsident Mitterrands als mögliche und wünschenswerte Lösung der »deutschen Frage« vor. Keine Mauer mehr - aber auch keine zwangsläufige Wiedervereinigung. Noch einmal wird damit zum Ausdruck gebracht, daß die Teilung ein Resultat des 2. Weltkriegs und nicht primär eine Frage des politischen Systems ist. Die Deutschen sollten nach einer »völlig neuen Definition der deutschen Nation« suchen, riet der Historiker Etienne François in einem Artikel über die leidvolle Geschichte der »verspäteten Nation« Deutschland in Le Monde, die Fehler der Vergangenheit vermeiden und vielmehr vom Fortbestehen zweier Staaten innerhalb dieser neu zu definierenden Nation ausgehen. Für absurd hält auch Joseph Rovan, neben Alfred Grosser der wohl beste, in der Bundesrepublik allerdings weniger bekannte Deutschlandexperte Frankreichs, die Neugründung eines deutschen Nationalstaates, und plädiert auch für eine »Europäisierung« dieser Frage: »Wenn wir keinen einheitlichen deutschen Nationalstaat wollen, müssen wir schnellstens Europa vereinheitlichen« (Le Monde, 11.11. 89). Dies kann als der gemeinsame Nenner fast aller nach dem 9. November 1989 befragten französischen Politiker gelten, so z. B. Giscard d'Estaing, Vorgänger Mitterrands und heute v. a. Europa-Politiker: »Es ist zu wünschen, daß Ostdeutschland von einem föderierten Europa aufgenommen wird und nicht von der Bundesrepublik«; oder der sozialistische Finanzminister Bérégovoy: »Je schneller sich die Ereignisse im Osten entwickeln, desto schneller müssen wir die europäische Einigung vorantreiben« (Le Figaro, 11.11.89). Der stets besonnene Alfred Grosser selbst erinnert daran, daß 1919 alle deutschen Parteien für die Integration Österreichs in die deutsche Republik waren, heute aber Österreich ganz selbstverständlich ein souveräner Staat sei. Eine Anleihe an die Geschichte machte auch Daniel Verne! Chef von Le Monde, in seinem Kom- [68] mentar vom 11.11., indem er die Unterscheidung zwischen »dem, was die Deutschen wollen und dem, was sie können« in Mitterrands Bonner Erklärung wie folgt auslegte: »Die Errichtung eines Staatenbundes, wie ihn Deutschland im Laufe seiner Geschichte schon oft gekannt hat, könnte eine Antwort auf die Wünsche und die Möglichkeiten gleichermaßen sein.«

Ob er einer von jenen sei, denen die Wiedervereinigung Angst mache, wurde François Mitterrand in Bonn auf der Pressekonferenz gefragt. Sein eindeutiges Nein vernahm der Kanzler mit sichtlicher Genugtuung. »Es gab kein besseres Mittel«, so das Editorial von Le Monde dazu, »zu verhindern, daß ein Gefühl der nationalen Frustration die bislang unzweifelhafte Verankerung der Bundesrepublik im Westen und in der EG gefährdet.« Mit anderen Worten: Selbst wenn Mitterrand anderer Meinung sein sollte als der, zu welcher er sich inzwischen mehrfach bekannt hat -, hätte er sie geäußert, hätte er nur Öl ins Feuer des ohnehin beunruhigenden Rechtstrends in der Bundesrepublik gegossen und auf makabre Weise dazu beigetragen, daß die französischen Ängste ihre volle Berechtigung erlangen könnten. Gleichwohl existieren sie: Auf die Berliner »Wiedervereinigungsrede« Kohls am 10.11. folgten in allen französischen Medien, sei es Presse, Rundfunk oder Fernsehen, entsprechende Kommentare, daß die Demokratisierung der DDR und die deutsche Wiedervereinigung zwei völlig verschiedene Dinge seien. Inwieweit die Medien für die tatsächliche Meinung der Franzosen in diesem Punkt repräsentativ sind, ist fraglich, zweifellos aber tragen sie tatkräftig zur Bildung der »öffentlichen Meinung« bei. In jedem Falle sitzen die Befürchtungen vor einer deutschen Wiedervereinigung in Frankreich sicherlich tiefer als anderswo - Polen vielleicht ausgenommen. Nicht ganz von der Hand zu weisen sind immerhin Feststellungen wie die des einflußreichen Oppositionspolitikers und Ex-Kulturministers Léotard: »Jedesmal wenn Deutschland eine staatliche Einheit war, gab es eine Destabilisierung des europäischen Kontinents. Dies den Franzosen zu sagen, ist ein Gebot der Wahrheit. War Deutschland dagegen zersplittert, hatte es eine ansehnliche kulturelle Ausstrahlung.« 1870/71 eingerechnet haben die Franzosen immerhin dreimal in siebzig Jahren einen Krieg von den Deutschen aufgezwungen bekommen. Die Besetzung und Teilung Deutschlands 1945 bedeutete für Frankreich damals in erster Linie die Zerstörung Preußens und die »Entpreußung« des deutschen Nationalcharakters (- wenn es denn je einen solchen gab). Gehört dies wirklich ein für allemal der Vergangenheit an, wenn wir heute wieder den Einzug einer rechtsradikalen Partei ins Parlament* feststellen müssen? Wurde die Wiedervereinigung Deutschlands bislang als das selbstverständliche Becht auf Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung gefordert - eine Wiedervereinigung im nationalen Bausch könnte ganz andere politische Marken setzen. Jedenfalls wären dann noch weitere »deutsche Fragen« wieder offen, wenn nämlich die »gemeinsame Grenze« mit Polen wiederhergestellt würde... Dann müßte ja, so Theo Waigel* und die seinen, erneut über die Grenzen von 1937 verhandelt werden. Mit welchem Ziel, braucht man wohl nicht lange zu raten. Und so stimmt denn auch trotz allem die französische Perspektive in dieser Frage, daß nämlich die Nachkriegsordnung in Europa nicht nur eine »pax sovietica« ist. Doch wie froh waren die französischen Politiker, als Gorbatschow mit seinem Njet zur baldigen Wiedervereinigung für sie die Kohlen aus dem Feuer geholt hat! Entsprechend groß war und ist die allgemeine Verstimmung über Kohls Wiedervereinigungsplan. Aber vielleicht hat Mitterrand inzwischen ja die ideale Lösung des gordischen Knotens gefunden, als er angedeutet hat, die Wiedervereinigung könne von den Alliierten mit einem Junktim auf die endgültige und eindeutige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze verbunden werden.

Nantes, im Dezember 1989

3. »Die Konturen des neuen Deutschland sind alles andere als klar . . .«
Frankreich und die Wiedervereinigung

Wolfgang Geiger

»Muß man vor den Deutschen Angst haben?« ist eine beliebte Frage in den französischen Medien. So auch in einem Sketch am Samstagabend, 20. Oktober 1990. Im französischen Fernsehen, zur besten Einschaltzeit. Und mit der Antwort: »Nein, denn heute machen die Juden Krieg und die Deutschen Geschäfte!« - Nichts anderes als dieser im Deutschen-Witz versteckte Juden-Witz könnte wohl besser vor Augen führen, wie die Debatte um die mögliche Wiederkehr der deutschen Vergangenheit im letzten Jahr in Frankreich vor dem Hintergrund des selbst Verdrängten stattfand.

Aus den Schlagzeilen der französischen Tagespresse weitgehend verschwunden, nachdem die Bundesregierung endlich zur Anerkennung der Oder-Neisse-Linie bereit war, blieben die tiefen Ressentiments gegenüber der deutschen Wiedervereinigung, die noch Ende des Jahres 1989 den Blätterwald überzogen hatten (siehe Neue Gesellschaft /Frankfurter Hefte 1/1990), trotzdem weiter präsent. Selbst der stets optimistische und seit dem Mauerfall unermüdlich in Sachen deutsche Einheit durch Frankreich reisende deutsche Historiker und Sozialdemokrat Rudolf von Thadden mußte in einem Rundfunkinterview feststellen, daß die Skepsis in weiten Teilen der französischen Öffentlichkeit gegenüber der neuen Rolle des vereinten Deutschland tiefer sitzt, als er gedacht hatte. Aus einer vorweihnachtlichen Umfrage unter der Bevölkerung zur Prognose für das neue Jahr 1991 ging ferner hervor, daß die mehrheitliche Befürwortung der Wiedervereinigung durch die Franzosen noch keineswegs ein positives Bild des neuen Deutschland mit sich bringt: »Was Europa angeht, so ermessen die Franzosen heute nach dem Applaus für die Wiedervereinigung Deutschlands besser alle Konsequenzen, die daraus folgen«, kommentiert die konservative Tageszeitung Le Figaro. Das war allerdings schon im März so, als laut einer Umfrage des liberalen Express die Franzosen schon mehrheitlich ihre Zustimmung zum vereinten Deutschland mit der Furcht vor dessen wirtschaftlicher Hegemonie verbanden.

Das Gespenst der Neutralität im politisch-militärischen Bereich wurde nach und nach gegenstandslos und durch das der neuen Weltmacht Deutschland abgelöst, bis dieses wiederum dem Bild des Profiteurs der Weltkrise Platz machte, der die anderen die Dreckarbeit am Golf machen läßt - womit der Kreislauf des Neutralismus wieder geschlossen wäre. Sorge Nr. 1 war und ist jedoch die Frage nach der wirtschaftlichen Übermacht und der deutschen Haltung zur europäischen Währungsunion. Frankreich werde zum »monetären Komparsen« degradiert, prognostizierte die linksliberale Le Monde im Januar, und »ein Deutschland, das zu groß für uns ist« sah der Nouvel Economiste im September mit der deutschen Einheit kommen. Sieht man einmal von den Zahlenspielereien ab, wie sich die beiden deutschen Staaten ökonomisch addieren, so drehte sich die Debatte vor allem immer wieder um die Frage, ob die Schaffung einer Euro-Währung den nationalen, um nicht zu sagen: nationalistischen Bestrebungen der deutschen Wirtschaft Fesseln anlegen würde, oder ob nicht umgekehrt die europäische Finanzpolitik unter das Diktat der Bundesbank in Frankfurt fiele.

Nachdem man feststellen mußte, daß die deutsche Einheit in jedem Falle um ein Vielfaches schneller voranging als die europäische und eine Koppelung beider Prozesse, zur Jah- [211] reswende 1989/90 noch gemeinsamer Nenner aller offiziellen Erklärungen, illusorisch war, wurden andere Überlegungen angestellt, wie der Machtgewinn und der Positionsvorteil für Deutschland im neuen Gesamt-Europa ausgeglichen werden könne. Dadurch etwa, daß man von der vordringlichen Beschäftigung der Deutschen mit sich selbst Nutzen zog, anstatt ihnen Vorwürfe daraus zu machen, um auf dem osteuropäischen Terrain einen Vorsprung zu ergattern. Auch dies natürlich reine Illusion, wie das renommierte Monatsblatt Le Monde diplomatique im August erkannte: »Es wäre ein Irrtum, die deutschen Ambitionen nur auf die DDR beschränkt sehen zu wollen, wie man es manchmal in bestimmten Kreisen der französischen Industrie hört, und dabei glaubt, daß sie den Druck auf andere Räume aufgebe. [. . .] Die Antwort der BRD ist knallhart und klar: Die BRD spielt die deutsche Vereinigung voll aus, als Hebel zum Ausbau ihrer Vormacht in der EG, und als Sprungbrett für den Run ihrer Konzerne nach Osten.«

Nachdem der »Wirtschaftsintellektuelle« Alain Minc schon im Frühjahr 1989 in seinem Buch Die große Illusion den neuen deutschen »Drang nach Osten« eindrucksvoll prophezeit hatte, zog der Chef der Wirtschaftsressorts des Express, Georges Valance, im Frühjahr 1990 ebenso eindrucksvoll nach. Als guter Kenner der deutschen Wirtschaft, der nach eigenen Angaben in den Chefetagen der größten deutschen Banken ein- und ausgeht, hat Valance in seinem Buch Frankreich-Deutschland: Die Rückkehr Bismarcks die bislang nicht nur umfangreichste, sondern auch treffendste Analyse dieses Problems geliefert. So vertraute ihm ein hoher deutscher Bankier, dessen Name freilich anonym bleibt, seine lapidare Meinung über das zukünftige deutsch-französische Verhältnis an, die einem Franzosen zum Alptraum werden muß: »Am Vorabend des 1. Weltkriegs betrug das Gewicht Frankreichs die Hälfte Deutschlands. Mit der Wiedervereinigung wird es wieder auf dasselbe hinauslaufen, das ist alles.« Als exzellenter Kenner der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik vermag Valance überzeugend das power play der deutschen Wirtschaft und der Regierung Kohl um die Führungsrolle im europäischen Einigungsprozeß darzustellen, eine Führungsrolle, die, wohlgemerkt, nicht darauf abzielt, die deutschen Interessen den europäischen unterzuordnen. »Wenn man den Deutschen selbst glaubt«, schreibt Valance, »ist das EWS ganz und gar eine DM-Zone.« Dieser »DM-Diktatur über das Europäische Währungssystem« im Westen entspricht im Osten die Schaffung einer weiteren »DM-Zone«, die »sich bis zur Weichsel und übermorgen bis zum Ural erstrecken soll.« Die deutsche Währung als Substitut für tabuisierten Nationalstolz, dies ist keine neue Erkenntnis, aber eine, die in der Tat nochmals ins Bewußtsein gerufen werden muß. Die BRD wurde de facto um eine neue Währung herum gegründet, die monetäre Vereinigung ging der politischen gleichermaßen voraus. Dieser DM-Nationalismus (Habermas) wurde im nachhinein nochmals eindrucksvoll von dem nicht ganz unbedeutenden deutschen Magazin Wirtschaftswoche in seiner ersten Ausgabe nach der Bundestagswahl bestätigt: In einem Artikel unter dem Titel: Gefahr für die Mark - 1991 wird zum Schicksalsjahr für die deutsche Währung. Die Bonner Haushaltspolitik und die Pläne für ein EG-Geld bedrohen die Stabilität, äußert sich in Bild-Zeitungs-Manier das nunmehr ungezügelte Selbstbewußtsein zumindest eines Teils der deutschen Bourgeoisie, die nach einem beeindruckenden Wahlsieg ihrer eigenen Regierung eine neue Linie diktieren will, denn »Kohl ist offenbar bereit, die Mark, die alles repräsentiert, wofür die Deutschen (West) 40 Jahre gearbeitet und wovon die Deutschen (Ost) 40 Jahre lang geträumt haben, auf dem Altar Europas zu opfern.« [212]

Der Wert der Analysen von Autoren wie Georges Valance und anderen wird leider aber dadurch geschmälert, daß sie dem wirtschaftspolitischen Argument ihrerseits um jeden Preis eine geschichtsphilosophische Weihe geben wollen, in der alle Irrationalismen eines Jahrhunderts deutsch-französischer Konflikte eingehen. So bekommt man im genannten Buch recht schnell den Eindruck, daß das deutsche Gebaren in den europäischen und internationalen Wirtschaftsbeziehungen nur als Beleg für den alten Drang der Deutschen nach der Herrschaft über die Welt (oder zumindest eines Teils davon) gilt, und nicht als der eigentliche Grund angesehen wird. Der Vorsprung der deutschen Wirtschaft und ihr Konkurrenzvorteil sind ja nichts anderes als Faktoren einer internationalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung, deren Prinzipien (auch das der Konkurrenz) den Franzosen ja ebenso heilig sind. Aber ein schlechter Verlierer versucht immer zu beweisen, daß der Gewinner ein Falschspieler ist, und obwohl G. Valance die französischen Schwächen sehr wohl erkannt und denunziert hat, ist auch bei ihm offenbar am Spiel immer dann etwas faul, wenn die Deutschen dabei gewinnen. Und so versucht er, die »ökonomische und finanzielle Waffe der Deutschen« als Revanche des verlorenen Krieges darzustellen: »Der große preußische Generalstab, von den Alliierten 1945 verboten, ist wieder da. Aber diesmal auf dem ökonomischen Gebiet und mit Sitz nicht in Berlin (oder in Bonn), sondern in Frankfurt, dem großen deutschen Bankenplatz. Es ist unmöglich, die Triebkräfte der neuen Macht zu verstehen, ohne auf diesen Generalstab zu verweisen, der dabei ist, den Dritten Weltkrieg zu gewinnen.«

Ganz in diesem Sinne wurde übrigens auch die Allianz zwischen Daimler und Mitsubishi in der französischen Presse als »Rückkehr der Achse« apostrophiert (Challenges) und mit Fotos von deutschen und japanischen Flugzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg unterlegt (Nouvel Observateur). Die Rückeroberung verlorenen Terrains durch die DM macht vor keiner Grenze halt, so wenig vor der Oder-Neisse wie vor dem Rhein. Die Intensität der deutschen Investitionen in Ostfrankreich und der Strom der französischen Grenzgänger, die in Deutschland arbeiten, »könnte eines Tages Regionen wie dem Elsaß ein Identitätsproblem bringen«, meint Valance, »man muß den Mut haben, dies auszusprechen.«

Zur Untermauerung der deutschen Hegemoniebestrebungen darf natürlich der Rückblick auf die Kontinuität deutscher und vor allem preußischer Geschichte nicht fehlen. Dies wäre auch berechtigt, wenn diese Anleihe an die Geschichte nicht rein formal wäre. Was bedeutet denn z. B. der Vergleich mit »Tauroggen, 1812«, als Preußen, bis dato Verbündeter Frankreichs, weil von Napoleon besiegt, sich mit Rußland verband? Oder der Rückgriff auf die preußische Staatsidee Friedrichs des Großen mit dem Hinweis, »die DDR - das ist Preußen!« Natürlich wissen wir, wie »preußisch« das SED-Regime gewesen ist, symbolisiert im Stechschritt, aber darauf will Valance ja gar nicht hinaus, sondern vielmehr auf die Besonderheit einer protestantischen Mentalität, die den französischen Deutschlandkennern spätestens seit den großen Arbeiten von Edmond Vermeil aus den 30er Jahren schuld an allem Übel erscheint. Dieser Rückgriff auf ein katholisches Weltbild zur Analyse der Politik des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist das eigentlich Neue, eigentlich das neue Alte, jedenfalls das anachronistische Element in der kritischen Beurteilung der deutschen Politik. Valance geht damit noch relativ sparsam um; aber auch für ihn steht der Katholizismus für Universalismus, der Protestantismus für Nationalismus.

Wesentlich dogmatischer noch hat der französische Germanistikprofessor Pierre Béhar die alten Geschichtsmythen reaktualisiert. Der Titel seines im Mai 1990 erschienenen Buches sagt schon alles: Vom Ersten zum Vierten Reich - Fortdauer einer Nation, Wiedergeburt eines Staates. Eigentlich ist es nichts weiter als eine komprimierte und aktualisierte Version des großen Werkes des bereits erwähnten Germanisten Edmond Vermeil aus dem Jahre 1939, Deutschland - Versuch einer Erklärung, aus dem sich seit dem Mauerfall fast alle Journalisten ihre Argumente geholt haben. Béhar, ein ausgesprochener Austrophiler, versucht darin vor allem, die ungewollte französische Mitschuld am Aufstieg Preußens anzuprangern, die darauf zurückzuführen ist, daß Frankreich fatalerweise stets die Habsburger als seinen Erzfeind betrachtet habe. Während der Autor recht treffend die Spezifika der Entstehung Preußens aus dem Deutschordensstaat herausarbeitet, verfällt er bei der Beurteilung des Protestantismus leider ganz der Ideologie: In der protestantischen Konzeption der religiösen Autorität des Landesfürsten komme das heidnische Germanentum wieder zum Durchbruch, das ja jenseits des Limes nur oberflächlich durch das Christentum verdrängt worden sei, daraus entstehe eine deutsche Nationalreligion, weswegen auch die lutheranischen Kirchen in ihrer großen Mehrheit für die Nazis gewesen seien, während die katholische Kirche »in ihrer Ganzheit dem Regime einen morali- [214, 213 war eine Werbeseite] sehen und unvergleichlich viel festeren Widerstand entgegenbrachte.«

Während Preußen zerstört wurde, ist der Protestantismus geblieben, der durch die Wiedervereinigung die mehrheitlich katholische, westliche Bundesrepublik wieder zu einem lutheranisch dominierten Deutschland mache. Anstatt konkrete Probleme mit der Wiedervereinigung aufzuzeigen, schwelgt man so gerne im historischen Determinismus - die Wiederkehr des immer Gleichen -, daß es sich von selbst versteht, wenn das Europa von 1991 dem von 1919 gleicht: »Im Prinzip hat sich nichts geändert. Auf der Ost- und Südflanke des neuen deutschen Blocks zerbröselt eine Streu von Kleinstaaten. Das gleiche Ungleichgewicht wird dasselbe deutsche Übergewicht herbeiführen.«

Wie ist es zu verhindern? Ebenfalls durch eine Anleihe an die Geschichte: die Neuschaffung der Donaumonarchie auf die eine oder andere Weise, deren Existenz »von heute aus gesehen nahezu prophetisch war: eine Art Modell von Konföderation für das Europa des 21. Jahrhunderts«, denn »das Gefühl einer natürlichen Schicksalsgemeinschaft verband die Mehrzahl der Nationalitäten, aus denen es zusammengesetzt war.« Fragt sich nur, warum es zerbrach. Darauf braucht Béhar keine Antwort zu geben, denn er kann auf das Requiem für ein verstorbenes Reich des angesehenen Osteuropaforschers ungarischer Herkunft, François Fejtö, verweisen, der in diesem Buch unlängst »nachgewiesen« hat, daß Österreich-Ungarn nur durch ein Komplott französischer Freimaurer zerstört wurde, gegen den Willen seiner Völker natürlich . . .

In dem Maße, wie die aktuelle Politik historisierend betrachtet wird, geraten auch historische Themen unversehens in den Blick der Aktualität. So fiel das Erscheinungsdatum des französischen Originals von Charles Higounets mediävistischem Klassiker Die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter in den Herbst 1989 und wurde im Januar 1990 in der Presse prompt mit dem Kommentar »von höchster Aktualität« bedacht. In einem Artikel über »die deutschstämmige Bevölkerung in Mittel- und Osteuropa« von Claude Hubain für die germanistische Zeitschrift Allemagne d'aujourd'hui (April-Juni 1990) wird im Rückblick die mittelalterliche Ostkolonisation - die als Mission im Auftrage von Papst und Kaiser erfolgte - auch im Sinne einer »Konzeption zur Schaffung eines großen deutschen Reiches« verstanden: »Wie man sieht, sind diese Elemente der Geschichte relativ aktuell, denn sie sind noch die Grundlage für den Krieg 1914-18 und haben zuletzt eine politische und militärische Umsetzung im Laufe der Periode 1939-45 gefunden. Der Nationalismus scheint 1914 eine Ära der Massaker eröffnet und sie zu Beginn dieses Jahrzehnts noch nicht abgeschlossen zu haben.« Während sich der Autor für seinen Bezug zum Ersten Weltkrieg auf eine französische Autorität aus dem Jahre 1916 bezieht - was wohl seine wissenschaftliche Distanz unterstreichen soll -, so fragt man sich, was mit dem Bezug zum heutigen Jahrzehnt genauer gemeint ist. In jedem Fall zeigt sich auch an diesem Beispiel, wie ein aktuelles Problem nicht aus der Analyse der gegenwärtigen Situation - hier z. B. die Umtriebe der deutschen Vertriebenenverbände in Schlesien -, sondern rein aus historischem Determinismus erklärt wird.

Dieser Ansatz, der selbst dem Gesetz der ewigen Wiederkehr zu unterliegen scheint und weitgehend die auf Emotionen bauende negative Presse zum Thema bestimmt, ist daher auch und sicherlich zu Recht Zielscheibe für die massive Kritik der Deutschlandexperten wie Alfred Grosser, Joseph Rovan u. a., die für die Wiedervereinigung in der französischen Öffentlichkeit streiten und deren demokratischen und friedlichen Charakter hervorheben - eben keine »Rückkehr Bismarcks«. »Wir sind voll und ganz für die deutsche Einheit«, eröffnete dementsprechend J. Rovan die erste Nummer des Jahres 1990 der französischen Ausgabe des offiziösen Organs der deutsch-französischen Freundschaft Documents/Dokumente. In den folgenden Heften wurden die Vorbehalte in einer Schärfe gegeißelt, die einer kritischen Beurteilung der Sache praktisch keinen Spielraum mehr läßt. Der eindrucksvollen Sammlung von Klischees des »Deutschlands unserer Obsessionen« aus der französischen Presse, die Nicolas Moll in Documents 2/90 zusammentrug, entspricht somit auf der anderen Seite ein affirmatives Deutschlandideal, das jede Kritik der deutschen Einheit mit dem Argument bekämpft, dies werde von den Deutschen nicht verstanden und erzeuge geradezu jene Entwicklung, die man angeblich verhindern wolle.

Diese Haltung des guten Willens ohne Wenn und Aber steht allerdings ebenfalls in einer historischen Kontinuität, die leider durch eine zweifelhafte Vergangenheitsschau nur allzu sehr bestätigt wird, der sich zumindest die deutsche Ausgabe der Zeitschrift zu öffnen scheint. Da wird nämlich ein deutsch-französischer Vermittler aus den 30er Jahren als »Vorkämpfer der Verständigung von unten« gelobt, Paul Distelbarth, dessen Opportunismus nach oben aber so weit ging, daß er meinte, den Franzosen im Jahre 1942 die neue »hierarchi- [215] sche Völkerordnung« und die Kollaboration mit den Deutschen klarmachen zu müssen (cf. Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 7/1990). Bei derselben Gelegenheit soll er aber zu erkennen gegeben haben, »daß er weder der Herrschaft des Nationalsozialismus über Frankreich, noch dem politischen Regime von Vichy eine Zukunft einräume.« (Manfred Bock in: Dokumente 3/90). Worum es dabei jedoch wirklich ging, war eine Kritik der alten, von Pétain so sehr verkörperten französischen Oligarchie, wie sie vor allem von Seiten der authentischen französischen Faschisten am Vichy-Regime geäußert wurde. - Wenige Monate nach diesem Rückblick auf die Vorgeschichte der deutsch-französischen Freundschaft fand in Dokumente eine andere zweifelhafte Würdigung der Kontinuität deutsch-französischer Verständigung statt, nämlich der ersten Schulbuchgespräche von 1935 (cf. Dokumente 5/90). Deren »völkerverständigendes Potential« sieht Rainer Riemenschneider im vergleichsweise breiten Konsens, der darin getroffen wurde, und der sie zum Ausgangspunkt für die Gespräche von 1951 machte. Unstrittig ist natürlich der Friedenswille der daran beteiligten Historiker, unstrittig sollte aber auch sein, daß er mit der Hypothek einer Geschichtslüge belastet war, wonach nämlich niemand am Kriegsausbruch 1914 schuld gewesen sei (Punkt XX). Die Überwindung dieses Mythos hat bei den deutschen Historikern bis in die 60er Jahre hinein gedauert (im Streit um die Thesen von Fritz Fischer). Im Augenblick der deutschen Wiedervereinigung hinter diese Erkenntnis zurückzufallen und unkommentiert die Positionen von 1935 in eine Kontinuität der deutsch-französischen Verständigung 1935-1988 einzuordnen, erscheint bedenklich - ist es Symptom des neuen Zeitgeistes? Sollte sich hierin auch eine Wiederkehr des Vergangenen andeuten - auf der einen Seite jene, die, wenn nicht die Erbfeindschaft, so doch ewiges Mißtrauen aus Prinzip pflegen, und auf der anderen Seite jene, die für die bedingungslose Verständigung die historische Wahrheit zu opfern bereit sind? Verblüffend scheint jedenfalls die Unfähigkeit beider Lager, die Realität kritisch zu beurteilen. Realitätsfern negativ argumentieren die einen, distanzlos positiv die anderen.

Einsam in der Landschaft stehen daher Analysen wie die von Etienne Sur in der Zeitschrift für Geographie und Geopolitik Hérodote, wo im Februar '90 in seltener Scharfsicht das Problem der deutschen Ostgrenze auf den Punkt gebracht wurde, nämlich, daß es nicht in der formellen Anerkennung der Oder-Neisse-Linie bestehe - woran der Autor nicht zweifelte -, sondern im unterschiedlichen Nationalverständnis: Im deutschen Fall basiere dies gar nicht auf dem Staatsterritorium, sondern auf der Volkszugehörigkeit - ius sanguinis statt ius solis wie in Frankreich -, wonach z. B. die deutschstämmigen Polen als Deutsche wie alle anderen angesehen werden (und im übrigen auch immer mehr deutsche Pässe haben); somit wäre die Oder-Neisse-Linie zwar die Ostgrenze des deutschen Staates, nicht aber die Ostgrenze des deutschen Volkes. Und so scheint denn auch die Formel von André Gisselbrecht in Le Monde diplomatique vom Januar 1991 in ihrer Vagheit die Situation am besten zu charakterisieren: »Die Konturen des neuen Deutschland sind alles andere als klar.« Aber auch das ist ein Rückgriff auf den Titel eines Buches, das der Deutschlandspezialist Pierre Viénot vor genau 60 Jahren veröffentlicht hatte: Deutsche Ungewißheiten.

 

Literatur

Alain Minc, La grande illusion, Paris 1989.
Georges Valance, 
France-Allemagne: Le retour de Bismarck, Paris 1990.
Pierre Béhar, Du ler au IVe Reich - Permanence d'une nation, renaissance d'un État, Paris 1990.

4. Der deutsche Sonderweg?

Als Marx und Engels sich 1845/56 ihrer Kritik der Deutschen Ideologie widmeten - sie verstanden darunter die »neueste deutsche Philosophie« -, galt ihnen das Adjektiv »deutsch« wohl als Kennzeichnung der spezifischen Ausformung einer allgemeinen »Ideologie«. Die Idéologie allemande, die der französische Sozialanthropologe Louis Dumont in seinem unlängst in Frankreich erschienenen gleichnamigen Werk analysiert, zeichnet sich dagegen vor allem durch ihr Adjektiv aus. Dumont kritisiert daran, was er für typisch deutsch hält. Das schnelle Echo, das das Buch auch sofort in der deutschen Presse fand, ist nicht zuletzt dem Titel zu verdanken (und der Tatsache, daß es in einem großen französischen Verlag erschien), denn die dort vertretenen Thesen zum Ursprung des deutschen Nationalismus sind nicht gerade neu. Doch die Thematik hat wohl wieder eine unerwartete Aktualität erlangt: Seit das Gespenst des Kommunismus in Europa nicht mehr spukt, scheint nämlich der Herdersche »Volksgeist« wieder umzugehen. Denn wie könnte man den Nationalismus analysieren, ohne auf die deutschen »Meisterdenker« zurückzugreifen, wie dies seinerzeit André Glucksmann formulierte?

Neu ist bei Dumont immerhin der Ausgangspunkt seiner Überlegungen, denn das Buch steht in einer Reihe von Untersuchungen zum Problem der Konfrontation zwischen Moderne und Tradition, die er unter zwei Rubriken, homo hierarchicus und homo aequalis, zusammengefaßt hat. Im vorliegenden Band handelt es sich nach Aussage des Autors um eine komparatistische Analyse zu Deutschland und Frankreich. Der Herdersche »Kriegszug gegen den uniformen Universalismus der Aufklärung«, das deutsche Konzept der Bildung, der ethnisch definierte deutsche Nationalgedanke, kurz, die deutsche Romantik steht der Französischen Revolution und den ihr zugrundeliegenden Prinzipien der Menschenrechte, der Aufklärung und der politisch bestimmten Staatsbürgernation gegenüber. Sie sei die identitätsstiftende Abwehrreaktion einer traditionellen Gesellschaft gegen die Moderne, die in Gestalt der Aufklärung aus Frankreich kam, wo sie durch die Revolution eine Gesellschaft schuf, die auf der Volkssouveränität basiert. In Deutschland blieb dagegen eine Gemeinschaft bestehen, der sich der einzelne unterzuordnen hatte. Die Moderne traf allerdings nicht auf pure Ablehnung, sondern der Holismus (das Ganzheitsdenken: Volk, Kultur etc.) wurde modernisiert, indem bestimmte Elemente von Universalismus und Individualismus mit dem traditionellen Gemeinschaftsdenken verbunden wurden. Im Falle Deutschlands entstanden daraus das nationalkulturelle Sendungsbewußtsein (»Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!«) und das Bildungskonzept, das die Aufklärung zwar weiterführte, aber entpolitisierte.

Daß in dieser Betrachtung verschiedene Epochen unterschiedslos zusammengeworfen werden - Romantik, 1848, Bismarck und Wilhelminismus - ist durchaus gewollt. Historische Analysen, die in der gescheiterten Revolution von 1848 einen Wendepunkt sehen, kritisiert Dumont als »oberflächlich, weil den globalen ideologischen Hintergrund und die Kontinuität der Kultur auf lange Sicht vernachlässigend«. Dementsprechend unhistorisch verfährt er selbst: Die Deutschen haben keine Theorie der territorialen Souveränität entwickelt, die als ein Wesensmerkmal der Moderne gegenüber der primitiven Stammessouveränität gelte. Ob es daran lag, daß Deutschland territorial zersplittert war? Das sei nebensächlich, meint Dumont, die wahre Ursache liege vielmehr in der Übernahme des Universalismus des einstigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in den völkischen Nationalismus sowie [78] hauptsächlich in der lutherischen Reformation. Die habe dies alles erst ermöglicht, weil sie Deutschland, nach einem Wort Thomas Manns, »gegen die Revolution immun« gemacht habe.

Damit reiht sich Dumont in eine lange Tradition französischer Deutschlandanalysen seit 1871 und vor allem nach 1933 ein. Ein dort immer wieder auftretender Grundfehler der Methode besteht darin, den »deutschen Sonderweg« aus nationalistischen Schriften heraus zu interpretieren, als ob deren Darstellung des »Deutschtums« der Wirklichkeit entspräche! So stützt sich auch Dumont unter anderem auf die Betrachtungen eines Unpolitischen, eine nationalistische Entgleisung Thomas Manns während des Ersten Weltkriegs, sowie auf die Schriften des Philosophen Ernst Troeltsch aus derselben Zeit. Der Rückgriff auf den 1. Weltkrieg wird dabei ganz bewußt vollzogen, in der Tradition des Soziologen Emile Dürkheim, der seinerzeit (1915) eine Beschreibung Deutschlands zu Papier brachte, »wie es uns der Krieg offenbart hat«. Daß er darin eine spezifische, überhistorische »deutsche Mentalität« ausmachte, ist nicht verwunderlich, eher dagegen die Neuauflage dieses Werkes im letzten Jahr unter dem Motto, es sei »eine Lektion an politischer Analyse für heute«. Als Konstante zieht sich durch alle solchen Überlegungen, wie sich im Bestreben um das Aufzeigen von Kontinuität die Vertreter der Revolution mit dem Katholizismus verbünden. Was dabei herauskommt, ist eine entsprechend bizarre Mischung von rationalistischer und konfessioneller Weltsicht, bizarr vor allem am Ausgang des 20. Jahrhunderts.

Zweifellos hat die Reformation den antiklerikalen Impuls der Französischen Revolution vorweg genommen und andererseits mit der Entfaltung einer ethnisch-moralischen Verantwortung des einzelnen die Entstehung einer politischen Verantwortung des Citoyen behindert. War aber der »Holismus« Herders, von dem Dumont kein einziges Werk überhaupt nur erwähnt, »im Grunde inkompatibel mit der Demokratie«? Den Konflikt zwischen Individualismus und Holismus betrachtet Dumont als in die »DNS« der deutschen Kultur eingeschrieben und somit einer ewigen Wiederkehr vorherbestimmt. Allein diese Metapher macht aber schon deutlich, wie sehr die Kritik des Anti-Rationalen selbst schon irrational wird und letztlich die völkische Definition des ewigen »deutschen Wesens« als wahr akzeptiert. Durchaus sinnvolle Forschungsansätze werden somit von selbst disqualifiziert, nicht zuletzt aus dem Grund, weil für viele französische Forscher, im Unterschied zu amerikanischen und anderen, die Auseinandersetzung mit Deutschland und den Deutschen in höchstem Maße als eine Form der Bestätigung der eigenen nationalen Identität erfolgt.

Wolfgang Geiger

Louis Dumont
L'idéologie allemande - France - Allemagne et retour
Paris 1991, 312 S., FF 145,
-

 

Erschienen in:
Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte
1/1990, Januar, S. 63-68.

(Friedrich-Ebert-Stiftung)

Der Artikel fasste damals die französischen Reaktionen aus Politik und Presse auf die Entwicklung in Deutschland vor und nach dem den Mauerfall bis Anfang Dezember 1989 zusammen.

* Besser übersetzt:
mit Haut und Haaren...

* Anspielung auf den Einzug der Republikaner ins Berliner Abgeord- netenhaus.
 Vgl. den Rückblick vom >Tagesspiegel sowie die damaligen Berichte in der >Zeit und im >Spiegel

* Theo Waigel: CSU- Politiker und damals Bundesfinanzminister

Erschienen in:
Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte
3/1991, März, S. 210-215.

(Friedrich-Ebert-Stiftung)

Der Artikel fasste damals französische Reaktionen auf die deutsche Wiedervereinigung zusammen.

Minc
Valance
Béhar

Buchbesprechung:
Louis Dumont: L’idéologie allemande, 1991.

Erschienen in:
Konturen - Magazin für Sprache, Literatur und Landschaft, 3)1992, S. 77-78.
(edition text + kritik)

Dumont